Warum inklusive Gestaltung mehr ist als Barrierefreiheit – und wie Unternehmen davon profitieren können
Kommunikation ist nicht für alle gleich
Ein blinkender Call-to-Action, drei Chatfenster, ein Pop-up über den Cookie-Banner gelegt – und dazu noch ein Produkttext, der zwischen Humor und Fachjargon schwankt. Für viele ist das eine übliche Website-Erfahrung. Für andere ist es: zu viel, zu unklar, zu anstrengend.
Nicht alle Menschen nehmen Inhalte auf dieselbe Weise wahr. Und nicht alle verarbeiten sie gleich. Wer Kommunikation plant – sei es auf der Website, im Onlineshop, in Social Media oder im Design – plant oft unbewusst für neurotypische Nutzer:innen. Dabei ist die Realität deutlich vielfältiger.
In diesem Beitrag schauen wir uns an, was Neurodiversität bedeutet, wie sie unsere digitale Kommunikation beeinflusst – und warum es sich lohnt, bei Gestaltung und UX alle Köpfe mitzudenken.
Was bedeutet Neurodiversität überhaupt?
Der Begriff Neurodiversität beschreibt die Vielfalt neurologischer Veranlagungen und Denkweisen. Er stellt die Idee in den Mittelpunkt, dass es nicht die „eine richtige Art zu denken“ gibt, sondern viele unterschiedliche – alle gleichwertig.
Neurodivergente Menschen verarbeiten Informationen, Sprache, Reize oder soziale Signale auf eine andere Weise als neurotypische Personen. Dazu zählen u. a.:
- ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung)
- Autismus-Spektrum
- Dyslexie (Lese-/Rechtschreibverarbeitung)
- Hochsensibilität
- Tourette-Syndrom
- u. a.
Wichtig: Neurodiversität ist keine Diagnose, sondern beschreibt eine natürliche menschliche Vielfalt – vergleichbar mit unterschiedlichen Persönlichkeitsmerkmalen oder Denkweisen.
Es geht nicht um Defizite, sondern darum anzuerkennen, dass Menschen Informationen, Reize und Kommunikation auf ganz unterschiedliche Weise wahrnehmen und verarbeiten – und dass genau diese Vielfalt auch in Design, Sprache und Nutzerführung mitgedacht werden sollte.
Warum betrifft das UX und Kommunikation?
Unsere digitale Kommunikation ist voller Regeln: Navigationsmuster, Textlogiken, visuelle Hierarchien. Wer diese Regeln aufstellt, orientiert sich oft am „Durchschnittsnutzer“. Doch dieser Durchschnitt ist vor allem eines: ein vereinfachtes Idealbild.
Menschen mit neurodivergentem Profil haben häufig andere Bedürfnisse in Bezug auf Klarheit, Struktur und Reizverarbeitung:
- Zu viele Animationen können überfordern
- Ironische Sprache kann missverstanden werden
- Nicht-lineare Navigation erzeugt Stress statt Entdeckerfreude
- Informationsflut erschwert das Filtern
Und das betrifft längst nicht nur eine kleine Minderheit. Neurodiversität ist weit verbreitet – aber im Alltag einfach nicht offensichtlich.
Ein kommunikativer oder gestalterischer Ansatz, der neurodiverse Menschen mitdenkt, führt oft ganz nebenbei zu besserer Verständlichkeit, Orientierung und Nutzererfahrung für alle. Es ist wie bei barrierefreier Architektur: Eine Rampe hilft auch Eltern mit Kinderwagen oder Menschen mit Koffern.
Was läuft oft schief – ohne dass man es merkt?
Viele Barrieren im UX-Design entstehen nicht absichtlich, sondern aus fehlender Perspektive. Hier ein paar typische Stolperstellen:
Reizüberflutung
- Alles bewegt sich: Auto-Play-Videos, Mikrointeraktionen, Hover-Effekte
- Zu viele Farben, flackernde Banner oder konkurrierende CTA-Elemente
- Problematisch bei Reizempfindlichkeit, ADHS, Autismus
Unklare oder doppeldeutige Sprache
- „Das rockt!“ – aber was genau?
- Sarkasmus oder bildhafte Sprache können verwirren oder ausgrenzen
- Klartext ist nicht gleich langweilig – sondern inklusiv
Verwirrende Navigation
- Menüstrukturen, die nicht selbsterklärend sind
- Zu viele Ebenen, keine klare Hierarchie
- Unlogische Filter oder versteckte Funktionen
Hohe kognitive Last
- Lange Scrollstrecken mit vielen Inhalten und Reizen
- Keine visuelle Priorisierung („Was ist hier eigentlich wichtig?“)
- Zu viele Optionen gleichzeitig = Entscheidungsblockade
All das kann dazu führen, dass Nutzer:innen abspringen – nicht aus Desinteresse, sondern aus Überforderung.
Was Unternehmen konkret besser machen können
Die gute Nachricht: Inklusivere Kommunikation braucht kein Redesign von Grund auf. Es sind oft kleine Veränderungen mit großer Wirkung, die den Unterschied machen:
1. Klare Struktur statt kreatives Chaos
- Inhalte logisch gliedern: von wichtig nach ergänzend
- Wiedererkennbare Navigationsmuster verwenden
- Visuelle Ruhezonen schaffen
2. Verständliche Sprache
- Kurze, klare Sätze
- Fachbegriffe erklären oder vermeiden
- Auf Ironie, Slang oder Wortspiele verzichten, wo nicht nötig
3. Fokus statt Dauer-Animation
- Bewegte Elemente sparsam einsetzen
- Mikrointeraktionen gezielt nutzen – nicht als Showeffekt
- Fokusführung durch Weißraum, Typografie, Kontrast
4. Vorher testen – auch mit neurodiversen Nutzer:innen
- Feedback aus verschiedenen Perspektiven einholen
- User-Tests so divers wie möglich aufstellen
- Auch intern Sensibilität schaffen (z. B. in Redaktion, Design, Support)
5. Inklusion als Haltung begreifen
- Nicht als „Extra“ denken, sondern als Teil guter Kommunikation
- Ziel: Alle verstehen – nicht nur viele
Fazit & Haltung
Neurodiversität ist kein Nischenthema – sondern gelebte Realität. Und sie ist auch keine Herausforderung, sondern eine Einladung: Kommunikation und UX so zu gestalten, dass mehr Menschen sich verstanden fühlen.
Wer neurodiverse Bedürfnisse mitdenkt, versteht besser, kommuniziert klarer – und schafft Angebote, die wirklich inklusiv sind. Das braucht kein Rebranding. Kein Leuchtturmprojekt. Nur Aufmerksamkeit, Mut zur Klarheit – und ein bisschen mehr „Was brauchen andere?“ statt nur „Was würde ich erwarten?“
Wir unterstützen Unternehmen dabei, Perspektiven sichtbar zu machen – und UX-Prozesse so aufzusetzen, dass sie niemanden verlieren, der dabei sein möchte.